Albanien schwebte uns vor. Doch als wir im Zug Richtung Balkan sitzen, hatten wir das zersprengte Jugoslavien neu vermessen, den Zeitfaktor gewogen, Orte aus der Erinnerung gekramt, das Auge in grüne Weiten getaucht und Gipfel gezählt, die Mitte April noch Schneefelder tragen sollten.
Der Nachtzug gen Belgrad, die Räder quer hinter der Lok, ein Schlafwagen nach Sofia rollt mit. Statt mit serbischen Dinar, lösen wir das Fahrrad-Billett für einen Euro. In Novi Sad liegt müdes Gelb zwischen den Bahnsteigen, ein Morgenhimmel spannt dramatische Graffiti übers Hochhausgrau und der trostlose Imbißladen bleibt hinter uns zurück.
Wir peilen auf Süden, zählen in 30 Stunden sechs Grenzen und können nur erahnen, wie eine Flucht aus Krieg und Vertreibung vor frisch gespanntem Stacheldraht endet. Schaut man die Grenzen auf der Karte, spürt man ihre Brüchigkeit. Brüchig und nicht zu halten. Unsere luxeriöse Halbinsel gleicht einer belagerten Festung und Angst schwebt wie eine giftige Wolke über dem Land. Einer Region, dessen Wege gen Osten unsere europäischen Vorfahren trugen.
Enklaven wie Trauben, entstanden aus dem Völkerkrieg in Ex-Jugoslavien, spannen holprige Wege als Durchschlupf zum Tor unter bosnischem Himmel. Schmal reckt ein Minarett über den sonnenwindigen Uferwald.
Ist man im Ankommen schon mitten drin? Zumindest glauben wir es, führen die Präsens des Entdeckens über Dörfer und Nebenstraßen, spüren den Puls des Frühling auf den Höhenzügen über TUZLA und das Grinsen der Totenschädel auf roten Minentafeln im Rücken.
Von 1992 bis 1995 wurde Bosnien-Herzegowina in die Hölle des Krieges geworfen. Angeheizt von nationalistischen Kräften Serbiens, Kroatiens und Bosnies. Die Sense des Völkermordes mitten im modernen Europe, umstanden von ohnmächtiger Staatengemeinschaft.
Dörfer zerstört und verlassen. Städte vernarbt, nun die Tünche des Westens über Arbeitslosigkeit, Korruption und der weiten Schere zwischen arm und reich.
Mit dem Bosna-Fluß nähern wir uns der Stadt. Doch erst als die Hügel, die Sarajevo wie ein Krater umschließen, überschritten sind, reiht sich die Erinnerung langsam zu Bildern. In einem taz-Artikel Mitte 1993 war von Mörserbeschuß und serbischen Scharfschützen zu lesen. Aber auch vom ungebrochenem Lebenswillen einer multikulturellen Bevölkerung. Geduckt hinter errichteten Mauern hält man das Leben aufrecht, improvisiert Kultur, erträgt Schrecken und Not. Da lag Sarajevo schon ein Jahr im Würgegriff und es sollten weitere 32 Monate vergehen, bis der Ring von Natobomben geknackt ist. Über 11Tausend Tote und schwer zerstörte Straßenzüge haben Wunden hinterlassen, die bis heute unverheilt.
Vor dem Krieg war Srebrenica eine Kleinstadt im NO Bosniens, nahe der serbischen Grenze und vom friedlichen miteinander der Ethnien geprägt. Anfang Juli 1995 waren Tausende Frauen, Männer und Kinder, innerhalb der von Serben umzingelten Enklave, auf der Flucht. Zu ihrem Schutz waren 400 Blauhelmsoldaten stationiert.
Doch Tatenlosigkeit der Blauhelme, sowie Hunger und Erschöpfung der bosnischen Muslime machten es den serbischen Paramilitärs, unter der Führung von Ratko Mladic leicht, Männer von Frauen zu trennen. Während die Frauen in Bussen abtransportiert wurden, fielen über 8000 Männer und Söhne der Erschießung zum Opfer. Wunden des Verlusts und brennende Trauer legen Schmerz über bosnisches Land, das mit weiteren Dutzenden Massengräbern überzogen ist.
Im Traum stürzt eine Brücke, unter den Füßen, in blaugraue Tiefe und Tags darauf verlassen wir die Hauptstadt. Stopfen die Taschen mit Verpflegung und kurbeln, aus breitem kiesigem Flusstal, dünn besiedeltem Mittelgebirge zu. Das Licht, der Sound frühlingsschwangerer Wälder legen neue Bilder und Balsam auf die Leinwand des Lebens.
Kaum noch nach Karte, gelingt der dritte Versuch, durch tief eingeschnittene Bergwälder, den Weg zu finden. Sonnenfleckige Hochebene und sanfte Bergriesen münden in den Zauber der Weite.
Eine Brücke gab der Stadt ihren Namen, wo die Brückenwächter„ Mostari“ genannt wurden. Stari Most,der hochgewölbte, steinerne Brückenbogen über die Neretva, verband über 400 Jahre das Hinterland mit der Adria. Ende 1993 brachten kroatische Granaten die schönste Brücke des Balkan zum Einsturz. Wenn auch mit dem Wiederaufbau der Brücke die sichtbare Wunde des Bürgerkrieges geschlossen werden konnte, es wird noch lange dauern, bis der Abgrund überbrückt ist.
Als wir Sarajevo auf dem Schienenweg verlassen, klatscht Schneeregen an die Fenster, die Melancholie sucht ihren Ton und irgendwo regt sich die Unkenntnis über den Gang unserer Wege.